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Die medizinische Dissertation: Rhetorisches Grundwissen

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Die Rhetorik ist eine über zwei Jahrtausende alte Universaldisziplin. Trotzdem haben ihre Konzepte nichts an Aktualität verloren. Im Folgenden werden diese Konzepte knapp vorgestellt (sie beziehen sich primär auf die „klassische“ Überzeugungsrede, lassen sich aber leicht auf andere rhetorische Texte und Situationen übertragen); wer sie kennt, hat Werkzeuge zur Hand, die er auf vielfältige Textsorten und zu verschiedenen Anlässen einsetzen kann. Für eine ausführlichere Darstellung der rhetorischen Konzepte sei auf folgendes Kapitel eines anderen Wikibooks verwiesen: Rhetorische Propädeutik

Der rhetorische Prozess

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Rhetorisch ist eine Rede oder ein Text immer dann, wenn der Autor (in der Rhetoriktheorie „Orator“ genannt) durch die Rede oder den Text beim Publikum etwas bewirken möchte. Genauer lässt sich dies als „rhetorischer Prozess“ analysieren: Demnach ist die Intention des Orators, das Publikum von einem Ausgangszustand A in einen Endzustand B zu versetzen. Beim Übergang von Zustand A zu Zustand B treten Widerstände auf (durch Publikum, Gegenstand, Redetext oder Kontext), die der Orator mittels Anwendung rhetorischer Mittel und Maßnahmen bearbeiten muss, damit er seine Intention erreichen kann. Da die Redesituation dynamisch ist, müssen immer wieder Reflexionen über die Adäquatheit des aktuellen Vorgehens und gegebenenfalls Handlungsmodifikationen erfolgen.

Der rhetorische Prozess

Aus dem rhetorischen Prozess ergibt sich, dass man sich im Vorfeld Gedanken zu folgenden Punkten machen sollte:

  1. Was will ich erreichen und was steht der Zielerreichung im Wege?
  2. Wer ist das Publikum?
  3. Worüber will ich reden und was ist meine Kernbotschaft?
  4. Was ist der Kontext und welche Probleme und Widerstände sind von ihm zu erwarten?

Wirkabsichten

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Der Orator möchte beim Publikum etwas bewirken, er verfolgt also eine von drei möglichen Wirkabsichten:

  • Belehren (Informieren)
  • Unterhalten
  • Bewegen (handlungswirksames Überzeugen).

In der prototypischen Redesituation (z. B. in Bundestagsreden) geht es primär um den Aspekt des Bewegens, bei Sachtexten (z. B. Doktorarbeiten) steht hingegen das Belehren im Vordergrund.

Die rhetorische Situation

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Die rhetorische Situation wird durch vier Elemente konstituiert, die miteinander in Beziehung stehen:

  1. Der Orator hat bestimmte Intentionen (d. h. will beim Publikum etwas Bestimmtes bewirken); zugleich erzeugt er beim Publikum durch die Art seines Auftretens auf para- und nonverbalem Weg ein bestimmtes Image („Ethos“) von sich, das sich gezielt zum Zweck der Überzeugung einsetzen lässt.
  2. Das Publikum bildet den Fluchtpunkt, auf den sämtliches oratorisches Handeln ausgerichtet ist – es gilt es zu informieren, zu unterhalten oder zu bewegen. Der Orator kann beim Publikum starke Gefühle hervorrufen („Pathos“), die den Überzeugungsprozess unterstützen.
  3. Der Gegenstand ist die Sache, über die der Orator spricht. Sie wird dem Publikum über den Redetext („Logos“) vermittelt.
  4. Der Kontext der Rede bildet den Hintergrund, vor dem sich die Beziehung zwischen Orator, Publikum und Gegenstand abspielt: Raumakustik, zeitgeschichtlicher Zusammenhang, Veranstaltungsrahmen etc.
Die rhetorische Situation

Rhetorische Grundprinzipien

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Eine Rede, mit der der Orator seine Wirkabsicht erfolgreich verfolgen will, muss folgenden rhetorischen Grundprinzipien genügen:

Angemessenheit („Aptum“, das wichtigste Prinzip der Rhetorik): Sämtliches Handeln des Orators muss angemessen sein. Hauptsächlich bedeutet dies, dass der Redetext sowohl dem Gegenstand als auch der Redesituation entsprechen muss. Das Kriterium der Angemessenheit orientiert sich an den geltenden (und weitgehend internalisierten) sozialen (gesellschaftlichen, fachspezifischen) Normen und erschließt sich hauptsächlich durch die in den bisherigen sozialen Lernerfahrungen ausgebildete Intuition. In der wissenschaftlichen Kommunikation gibt es zudem diverse implizite Normen; beispielsweise wird erwartet, den Gegenstand möglichst neutral, sachlich und emotionsfrei darzustellen.

Sprachrichtigkeit („Puritas“): Die richtige Konstruktion der Sätze (in Bezug auf Grammatik und Länge), die korrekte Schreibweise und Aussprache der Worte und die Verwendung zeitgemäßer und bekannter Ausdrücke bilden die Grundvoraussetzungen dafür, dass der Text überhaupt verstanden werden kann und das Publikum nicht vom Inhalt abgelenkt wird. Zudem wirkt ein fehlerloser Text ästhetisch angenehm.

Verständlichkeit („Perspicuitas“): Wenn ein Text beim Publikum Wirkungen auf kognitiver Ebene entfalten soll (etwa in Form von Einsicht), muss er dem Publikum kognitiv auch möglichst gut zugänglich, d. h. verständlich sein. Der Text soll den Inhalt also einfach und auf konzentrierte Weise ausdrücken. Einen Text verständlich zu gestalten, ist oft mit hohem Aufwand verbunden (Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“). Als Verständlichkeitskriterien eignen sich die Konversationsmaximen von Grice:

  • Klarheit
  • Relevanz (Bezug zum Thema)
  • Wahrheit
  • Adäquater Informationsgehalt (so viel wie nötig, so kurz wie möglich; hierzu zählt auch das Kriterium der Prägnanz: Genauigkeit, Eindeutigkeit und Knappheit (Esselborn-Krumbiegel, 173))

Anders formuliert: sage auf klare und verständliche Weise, was informativ, wahr und relevant ist. Auch hierbei gilt das Prinzip der Angemessenheit (Einstein: „Mache die Dinge so einfach wie möglich, aber nicht einfacher“).

Kniffe für mehr Verständlichkeit:

Esselborn-Krumbiegel (166 ff.) empfiehlt folgende Taktiken, um Texte verständlicher zu machen:

  • Vorinformationen geben, d. h. komplexe Konzepte vor ihrer eingehenden Erläuterung grob umreißen
  • Kohärenz sicherstellen, indem man sachlich Zusammengehöriges auch in räumlich-textliche Nachbarschaft stellt
  • die logische Struktur des Textes deutlich machen, d. h. die Sätze durch Konjunktionen (z. B. „obwohl“, „damit“) und Adverbien (z. B. „allerdings“, „trotzdem“) miteinander verbinden
  • in kleinen, logisch aufeinander abgestimmten Schritten vorgehen

Zur kritischen Überprüfung der Verständlichkeit einer Textpassage empfiehlt Esselborn-Krumbiegel (141), an jeden Sinnabschnitt Fragen aus der Perspektive des Lesers zu stellen. Dies hilft dabei, Schwachstellen und Argumentationslücken zu erkennen und die Relevanz des jeweiligen Abschnitts abzuschätzen. Weiterhin lässt sich nach dem Ziel des jeweiligen Abschnitts fragen und danach, ob dieses Ziel erreicht wurde.

Richtige Stilhöhe: Die Wahl der Stilhöhe richtet sich nach dem Gegenstand, dem Publikum, dem vom Orator intendierten Image und der Wirkabsicht des Textes. Eine Rede, die das Publikum informieren soll, ist einem sachlichen Stil verpflichtet, während in einer Überzeugungsrede diverse Stilmittel vorkommen können, um die sachlichen Anteile der Rede emotional zu unterfüttern.

Redeaufbau

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Eine Rede besteht aus einem Anfang, einem Hauptteil und einem Schluss.

  • Am Anfang kann eine Einleitung („Exordium“) stehen, die üblicherweise drei Funktionen erfüllt: (1) das Wohlwollen des Publikums erlangen („Captatio benevolentiae“), (2) das Publikum vorinformieren, damit es die im Hauptteil vorgebrachten Informationen leichter verarbeiten kann („Docilem parare“), (3) das Interesse und die Aufmerksamkeit des Publikums wecken („Attentum parare“).
  • Der Hauptteil gliedert sich gemäß dem klassischen, an der Gerichtsrede orientierten Schema in zwei Abschnitte: (1) Darlegung der Gegebenheiten, d. h. Erzählung des Vorfalls, um den es geht („Narratio“), (2) Argumentation für die eigene und gegen die gegnerische Position („Argumentatio“).
  • Der Schluss („Peroratio“) soll (1) die Inhalte des Hauptteils zusammenfassen („Enumeratio“) sowie (2) die Gefühle des Publikums erregen („Affectus“) und es so zum Handeln bewegen.

Bei genauem Hinsehen lässt sich dieser Aufbau in vielen Reden und anderen Texten entdecken.

Rhetorischer Produktionsprozess

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Der rhetorische Produktionsprozess umfasst sechs Schritte, die vom Entschluss, einen Text zu schreiben oder eine Rede zu halten, bis zum vollendeten Text oder zur vorgetragenen Rede reichen. Er ist prinzipiell auf jede Art rhetorischen Textes anwendbar (wobei die Punkte 5 und 6 meist nur für gesprochene Texte gelten). Je gründlicher ein Schritt durchgeführt wird, desto leichter fällt der nächste Schritt.

  1. Analyse von Gegenstand, Intentionen, Publikum und Kontext („Intellectio“)
  2. Stoffsammlung, Auffinden von Themenaspekten, Gedanken, Ideen („Inventio“)
  3. Ordnen des Stoffs in einer sinnvollen, konsistenten Gliederung („Dispositio“)
  4. Schreiben des Textes, Ausmerzen von Fehlern, Hinzufügen von Schmuck („Elocutio“)
  5. Memorieren des Textes („Memoria“)
  6. Wirkungsvoller Vortrag des Textes („Actio“)

An dieser Sequenz orientieren sich die folgenden Abschnitte – mit Ausnahme des folgenden Kapitels, in dem es um die allgemeinen Vorbereitungen geht.